Morgen, ganz bestimmt….
hat sie gesagt. Und dann hat sie es doch wieder nicht hinbekommen. Aber morgen macht sie es, ganz bestimmt. Für diese Aufschieberei hat sie nun schon ihren Ruf bekommen. Manche nennen sie auch schon die „Manjana-Frau“. Manjana heisst „morgen“ auf Spanisch. Nicht nett. Ihre Reaktionen, wenn man sie so nennt, reichen von Verlegenheit bis Trotz oder Ärger. Manchmal geht sie auch einfach nur weg.
Sehr wahrscheinlich ist es ihr sogar selber peinlich. Spätestens dann, wenn so etwas aufkommt. Schimpfen wäre im ersten Moment verständlich, bewirkt aber wenig. Im Gegenteil: Dadurch treibst du sie möglicherweise nur in die Enge. Das wäre doch schade. Ändern tut sich dadurch sowieso wenig bis nichts oder nur für kurze Zeit.
„Ich weiß ja auch nicht, warum, aber manchmal dauert es eben etwas länger bei mir, oder ich vergesse es“, sagt sie und dass es bestimmt kein böser Wille sei. Die Freunde, die sie noch hat, verzweifeln auch immer wieder. Was soll man nur machen?
Wenn sie ansonsten freundlich ist, wäre es natürlich Unfug, sie zu boykottieren oder aus dem Freundeskreis heraus zu drängen. Man muss sich natürlich drauf einstellen, dass Verabredungen mit ihr nicht immer klappen. Ob zusammen ausgehen, oder den Brief mit zur Post nehmen. Aber sie ist ja wirklich freundlich und sehr lustig.
Für ständiges Aufschieben gibt es so einige Hinweise
Man nennt das auch „prokrastinieren“. Im Englischen heißt das procrastinate. Könnte man mit „aufschieben“ übersetzen. Dafür gibt es auch ein paar äußere Anzeichen. Am PC-Monitor schränken Haftnotizen den Blick auf den Bildschirm massiv ein. Das schwarze Brett in der Küche ist flächendeckend mit Zetteln bestückt. Ähnliche Erscheinungen gibt es an der Kühlschranktür.
In Büros finden sich auch schöne Beispiele für das Aufschieben. Papierberge auf Schreibtischen wechseln sich mit überquellenden Ablagen ab. Entlegene Stapel in Regalen bilden Zwischenlager. Andere Schreibtische sind dagegen mustergültig aufgeräumt und nahezu leer. Wenn aber eine der Schiebeschranktüren in der näheren Umgebung geöffnet wird, zeigt sich unvermittelt die versteckte Deponie für nicht bearbeitete Aufgaben. Ich bin sicher, du kennst noch weitere Beispiele.
Es kann sein, dass das nicht nur störende aber letztlich doch harmlose Angewohnheiten sind. Dem können aber auch wirkliche Stoffwechselstörungen im Hirn zugrunde liegen, die in diesem Fall Antriebsstörungen auslösen würden.
Wie unterscheiden sich Antriebsstörungen von Energiemangel
Was sind Antriebsstörungen und wie unterscheiden sie sich von Energiemangel? Das ist gar nicht einfach zu verstehen. Antrieb und Energie sind sehr ähnlich. Nehmen wir zur Erklärung einen Vergleich mit einem Verbrennungsmotor. Wenn der Tank voll ist und genug Treibstoff zum Motor gelangt, hat der Motor genug Energie. Aber laufen tut er deswegen trotzdem nicht. Was fehlt, ist ein Zündfunke, der die Verbrennung in Gang setzt. Der Zündfunke ist der Antrieb, der nötig ist, damit der Motor läuft und die ganze vorhandene Energie in Aktivität umgesetzt werden kann. (Die Informierten haben es natürlich schon längst erkannt: Wir reden hier natürlich nicht vom Dieselmotor.)
Die Antriebsschwäche der Freundin könnte ergänzendes Anzeichen einer umfangreicheren Störung sein. Ist sie oft niedergeschlagen, hat sie keine rechte Freude, wie schaut es mit dem Schlaf aus und dem Appetit? All das könnte auf eine Depression hindeuten. Und auf weitere Störungen. Das sollte man aber nicht selber einschätzen. Vielleicht kannst du deine Freundin ja dazu bewegen, sich einmal gründlich beraten zu lassen. Möglicherweise ist ja die Einnahme von Psychopharmaka erforderlich.
Nach deiner Schilderung hat sie aber keine weiteren Auffälligkeiten. Du könntest ihr also deine Hilfe anbieten, wie sie da wieder herauskommt. Was könnte man also tun? Eher abzuraten ist von großen Versuchen, das Chaos zu ordnen. Nach Dringlichkeit, welches Problem ist das älteste, was kam danach, oder nach Themen. Das überfordert in den meisten Fällen.
Vermeidungsstrategie aus Angst vor dem Scheitern
Früher habe ich bei meinen Klienten immer nach dem größten Problem gesucht und dann versucht, darin einen ersten Fortschritt zu erzielen. Natürlich in der Hoffnung, wenn erst einmal das große Problem gelöst ist, sich im Anschluss die anderen, kleineren Probleme ganz schnell lösen lassen. Das führt allerdings meistens nicht sehr weit. Antriebsschwäche entsteht auch deshalb, weil Erfolgserlebnisse ausbleiben. Man hat sich ganz lange sehr viel Mühe gegeben und dann klappt es doch nicht. Dinge nicht anzugehen, ist also auch eine Vermeidungsstrategie. Man vermeidet frustrierende Erlebnisse bei Misserfolgen. Bei großen Problemen ist die Gefahr zu scheitern und damit die Frustrationsgefahr wesentlich größer als bei kleinen.
Ich würde inzwischen eher zum umgekehrten Weg raten. Man sucht nach dem kleinsten bzw. am leichtesten und schnellsten zu lösenden Problem und geht dieses an. Wenn du der Freundin hilfst, solltest du nicht drängen und drücken. Insbesondere solltest du nicht derjenige sein, der die zu lösende Aufgabe auswählt. Frag sie eher mal, was sie selbst denn machen möchte.
Lass dich auch ruhig auf ganz kleine Vorhaben ein. Bekannt ist der Tipp, Dinge, die man in zwei Minuten erledigen kann, als erstes anzugehen. Mir sind Personen bekannt, die mit Projekten von 30 Sekunden begonnen haben. Sch….egal! Hauptsache erst mal anfangen. Der Weg ist das Ziel. Mit dem ersten kleinen Erfolg kehrt der Mut zurück und man kann die nächsten Probleme angehen. Und vorher darf man den ersten Erfolg auch einmal feiern. Die Freundin hat mit dem ersten kurzen Projekt vielleicht einen Erfolg erzielt, den sie in dieser Form länger nicht mehr hatte. Sie hat eine Angelegenheit, die sie eigentlich ignorieren wollte, erfolgreich erledigt.
Lass sie das ruhig geniessen. Und feiere mit ihr. Verbleibe aber – wenn das geht – nicht nur im reinen Feiermodus, sondern stell den Bezug zum soeben gelösten Problem her. So kann man versuchen, das Gehirn anders zu programmieren. Dass es mit Problemlösung nicht nur Frust verbindet, sondern auch Freude und Stolz. Und mit Freude nicht nur die reine Ausgelassenheit, sondern auch die Zufriedenheit, etwas erreicht zu haben.
Überlass ihr die Initiative, ob sie gleich weiter machen möchte. Das muss nicht unbedingt sein. Auf keinen Fall überfordern. Das hat sie vermutlich mit sich selbst schon länger getan.
Es gibt sogar eine eigenständige Therapierichtung, die auf diese Weise arbeitet: die lösungsorientierte Kurzzeittherapie nach Steve de Shazer und Insoo Kim Berg.
Und denk dran: die Lösung liegt bei der Freundin! Nur sie kann ihre Lage verbessern. Du kannst ihr allenfalls helfen. Das solltest du aber auch versuchen!
Hast Du noch Fragen, frag mich. info@psychologische-beratung-rosenheim.de oder Telefon 0170/5395483.
Du kannst mir auch Themen vorschlagen, über die ich einmal schreiben sollte.
In der nächsten Woche ist jemand mal nett und mal nicht.
Alexander Wurthmann M. A.
(Quelle: Kolumne Dr. Alexander Wurthmann M. A. / Beitragsbild, Foto: re)