Wie funktioniert die Gruppendynamik?
„Klack“ macht der Mähroboter, als er gegen den Baum fährt, der in der Wiese im Garten steht. Dann setzt er etwas zurück und der Microchip in ihm entscheidet nach Zufallsprinzip, ob er sich nach rechts oder links dreht und um wieviel Grad. Dann geht es in einer anderen Richtung weiter bis zum nächsten „Klack“ und das ganze Zurückfahren und Wenden beginnt von vorne.
Zufallssteuerung funktioniert erstaunlich gut
Man glaubt es kaum, aber auf diese Weise schafft es der Mähroboter am zuverlässigsten das Abmähen der gesamten Rasenfläche. Das kann man sogar ausrechnen. Viel zu aufwändig wäre es, einen systematischen Mäh-Plan zu erstellen. Eine Bahn neben die andere zu legen. Wo und in welcher Richtung fängt man an, wie plant man die ganzen Hindernisse ein. Mit der Zufallssteuerung haben alle Grashalme die beste Chance, gemäht zu werden. Einige vermutlich mehrfach, aber alle kommen irgendwann dran.
Effektivität durch seelenlose Zufallssteuerung. Niemand sagt „Aber da ist noch ein Büschel, da musst du zuerst hin“. Oder „Ich will jetzt da hin, stell dich hinten an“. Erst wenn Lebewesen mit ihrer Psyche ins Spiel kommen, wird der Lauf der Dinge beeinflusst und das nennt sich dann Gruppendynamik.
Gleich hinter dem Zaun ist eine Wiese. Wenn sie hoch genug steht, weiden dort für kurze Zeit Schafe. Derzeit gut dreißig Stück. Mitsamt weiteren acht bis zehn Lämmern. Dort läuft der Mähvorgang ganz anders ab. Nicht nur, dass die zum Teil schon recht großen Lämmer einen Teil der Grasbeseitigung recht unorthodox durch Herumtoben und Heruntertrampeln erledigen. In der Abenddämmerung finden oft ausgiebige Lämmer-Jagden über die Wiese statt, bei der viele Haken geschlagen werden. Zufallskurven werden gezogen.
Manchmal wird gezielt gewendet. Dann dreht sich das vorne laufende Lamm halb um und legt beim Anblick der nächsten Verfolger eine scharfe Kurve zur anderen Seite ein. Nicht immer folgen ihm alle. Die wissen sicher, warum. Aber wissen die wirklich immer, warum? Da scheint auch viel unbefangener Spieltrieb zu wirken. Wenn ich mir das Treiben nebenan anschaue, frage ich mich ein um das andere mal „Warum machen die das jetzt?“
So ähnlich geht das auch mit der Beweidung durch die erwachsenen Schafe. Am anderen Ende der Wiese sind ein paar Büsche, die von unten so weit abgefressen wurden, dass fast alle Schafe im Schatten darunter Platz haben. Da liegen sie oft. Manchmal brechen zunächst einige zu uns herüber auf, dann folgen andere, Gras rupfend und kauend, bis alle an unserem Zaun angekommen sind. Die Nachzügler mit immer schnelleren Schritten.
„Schafe halten sich nicht an Pläne“
Dann löst es sich auf. Die Schafe zerstreuen sich. Einige grasen weiter, andere legen sich wiederkäuend hin, manche schlafen, manche rasen oder hüpfen wie wild. Manchmal löst es sich auch schon auf, bevor unser Zaun erreicht ist. Man kann wirklichen keinen Plan erkennen. Die Schafe halten sich nicht an Pläne. Manche Büschel bleiben länger stehen, als andere. Dann grasen einige wieder auf einer Stelle, bis alles ratzekahl ist.
Trotzdem kann man erkennen, wie sie nicht völlig zufallsgesteuert handeln. Oft reagieren sie aufeinander. Gruppendynamik. Manchmal ist der Wunsch zusammen zu stehen wohl einfach zu gross. Dann ziehen sie alle in kurzer Zeit in den Schatten unter die Sträucher.
Sogar das hinten rechts deutlich hinkende Schaf will nicht alleine bleiben. Es hatte zwar einen nicht überbietbaren Schattenplatz nahe dem Gebäude am Rand der Wiese, durch das keine Sonne dringen kann. Aber der Schmerz, nicht bei der Gruppe zu sein, ist wohl grösser als der in der lahmenden Gliedmaße. Ganz am Schluss zieht auch sie in Richtung auf die Sträucher. Gruppendynamik.
Unter den Sträuchern wäre eigentlich genug Platz und Schatten für alle. Trotzdem müssen einige Schafe halb draußen in der Sonne liegen. Die führenden Schafe beanspruchen aufgrund ihrer ranghohen Stellung mehr Platz als sie für den eigenen Schatten brauchen. Gruppendynamik.
Was da drüben passiert, lässt sich manchmal vorher erahnen. Meist aber erst im Nachhinein verstehen. Geschichte wiederholt sich eben nicht – oder nur zum Teil. Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen (Heraklit und Platon). Vieles ist ergebnisoffen. Sie gehorchen keinem festgelegten Plan. Noch nicht einmal einem zufallsgesteuerten. Ihre eigenen Wünsche spielen ebenso eine Rolle wie die der anderen Schafe. Wie auch immer diese entstehen mögen.
Ich wäre gerne bei den Schafen, die Einfluss auf den Lauf der Dinge nehmen. Nicht immer wissend, warum. Denen manchmal das Herz schwerer ist als das Bein. Die die Jungen toben lassen. Natürlich auch mal einen Rempler setzen, wenn die ihnen zu nahe kommen. Die Wiese ist am Ende auch gemäht.
Natürlich würde ich den sicheren Schattenplatz nicht aufgeben, wenn dafür der halbe Hintern in der heißen Sonne liegen müsste. Schließlich gehöre ich ja zur Krone der Schöpfung. Und doch: Lasst mich jetzt bitte nicht grübeln, für was ich alles schon den halben Hintern in der Sonne hängen ließ. Er hat im Gegenzug auch schon oft genug im kühlen Teich gebadet. Schließlich sind wir die Krone der Schöpfung. Ergebnis der inhaltlichen Prüfung dieser Schlussfolgerungen: offen!
Lieber Leser, wenn Dir demnächst verschiedentlich Menschen an Weiden auffallen, Schafe, Rinder, Pferde, Schweine, Gänse und weiteres Getier darauf beobachtend, probier‘s doch auch mal. Vielleicht kommt ihr ins Gespräch.
Hast Du noch Fragen, frag mich. info@psychologische-beratung-rosenheim.de oder Telefon 0170/5395483.
Du kannst mir auch Themen vorschlagen, über die ich einmal schreiben sollte.
In der nächsten Woche sagt einer immer nur „das stimmt doch nicht!“
Alexander Wurthmann M. A.
(Quelle: Kolumne Dr. Alexander Wurthmann M. A. / Beitragsbild, Foto: re)