Rosenheim – Regelmäßig schreibt der Rosenheimer Dr. Alexander Wurthmann M.A. auf Innpuls.me über ein psychologisches Thema und gibt Tipps, wie man damit umgehen kann. Diesmal geht es um Essstörungen.
Dr. Alexander Wurthmann M. A. Fotos: re
Zu Dr. Alexander Wurthmann: Der Rosenheimer mit rheinischen Wurzeln ist Sohn eines Schriftstellers. Er hat schon im Alter von 9 Jahren seine erste handgeschriebene Zeitung verfasst. Mitte der 70er Jahre studienhalber nach München. Abschlüsse in Politologie und Geschichte (Thomas Nipperdey). Oft als Reiseleiter in Japan und China. Dann viele Bildungsprojekte auf Bundes- und Länderebene gemanaged und schließlich fast 30 Jahre eine berufsbildende Schule betrieben. Nunmehr im fünften Jahr bei einer lebensberatenden Hotline im kirchlichen Bereich tätig und betreibt in Rosenheim eine Praxis für psychologische Beratung und Coaching.
Hier gibt es dazu weitere Infos:
„Ich esse die ganze Zeit zu viel“ hat sie gesagt. Genial. Man sieht ihr trotzdem nichts an. „Wie machst du das?“ Naja, Sport. Viel davon. Sie hat auch spezielle Produkte, die ihr abnehmen helfen. Diätpillen, Appetitzügler. Hat sie keine Bedenken, Pillen zu nehmen, statt weniger zu essen? Aber es geht doch nicht anders. Und andere nehmen auch Pillen für alles Mögliche: Vitaminpillen, Pillen für die Konzentration, gegen Allergien, gegen die Knieschmerzen nach dem Sport. Ach ja, sie treibt ja viel Sport. Jede Woche einen Halbmarathon. Mehrere, sagt sie.
Und im übrigen ist sie ja immer noch viel zu fett. Hier und da und am Po sowieso. Da muss noch viel mehr weg. Ob ich mal die neue Bachelorette gesehen habe? Möchte sie denn Model werden? Dafür hält sie sich mit Abstand für nicht schlank genug.
Was sie selbst denn für einen BMI hat (Anmerkung: Körpergewicht in kg geteilt durch Körpergrösse in m zum Quadrat. 19 – 25 gilt als normal). Egal. Das sieht man doch, sagt sie, dass da noch zu viel drauf ist. Und im übrigen bekommt das mit den Pillen eh keiner mit. Und dann erzählt sie auch noch etwas von Abführmitteln.
Wie sie das eines Tages mit ihren Kindern machen möchte. Ob dieses übermäßige Essen und dann mit Pillen und übermäßigem Sport für Kinder gut sein kann, will ich wissen. Ach, Kinder, bei ihr setzt manchmal die Regel aus. Aber das kann schon mal passieren. Bei anderen passiert das auch. Früher, als sie noch die Regel bekam, war das immer so ein Theater. Ist jetzt besser so.
Sie findet es eben schön, wenn sich so viele nach ihr umdrehen, wenn sie den Raum betritt. Wenn sie nicht so schlank ist, würde das bestimmt weniger. Davor hat sie richtig Angst. Schon die Eltern haben sie kritisiert, wenn sie zu dick wurde. Manchmal hat sie dann erst recht viel gegessen, nur um das Geschimpfe zu vergessen. Und dann musste sie wieder hungern etc..
Die Angst vor dem Übergewicht
Und heute, wenn die Ängste vor dem Übergewicht wieder kommen und davor, dass die anderen sie dann nicht mehr mögen, ist sie manchmal etwas niedergeschlagen. Wenn sie ganz verzweifelt ist, steckt sie auch schon mal den Finger in den Hals. Beim genauen Hinschauen, kann man sogar Narben am Finger wahrnehmen. Die kommen von den Zähnen.
Wie kann ich ihr nur helfen? Ehrlicherweise muss man sagen: Das ist nicht leicht. Ein allgemeines Bewusstsein für eine krankhafte Entwicklung ihrer Essgewohnheiten gibt es bei ihr nicht. Immerhin hat sie sich mir schon unerwartet weit offenbart. Da kann ich vielleicht anknüpfen.
Deshalb sollte ich den Kontakt auf keinen Fall abreißen lassen. Extremes Hungern kann körperliche Schäden auslösen, die bis an die Grenze zum Verhungern reichen können. Das kann sogar mit dem Tod enden. Und überall wo Niedergeschlagenheit bzw. Depression anzutreffen sind, sollte man genau auf etwaige Anzeichen von Verdruss am Leben achten und ob Zweifel daran geäußert werden, ob es Sinn macht ein solches Leben weiter fortzuführen. Ob also ein Suizid droht.
Offenkundig braucht sie also Hilfe. Die wird sie vermutlich nur annehmen, wenn sie sich einen Nutzen davon verspricht, bzw. wenn ich ihr einen aufzeigen kann. Wenn ich Glück habe, bekomme ich mit, wenn es ihr schlecht geht. Dann kann ich ihr vorschlagen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Von Experten, die vielleicht eine Idee haben, wie man dieses ewige hin und her von übermässigem Essen und Hungern, Sport etc. so modifizieren und trotzdem schlank bleiben kann. Vielleicht auch mal für eine gewisse Zeit an einer Kur teilnehmen. Wenn sie sich davon einen Vorteil verspricht, habe ich schon halb gewonnen.
Der Zeitpunkt, an dem es ihr so schlecht geht, dass sie sich darauf einlässt, wird kommen. Mangelnde Krankheitseinsicht und eine gestörte Wahrnehmung des eigenen Körpers (Körperschemastörung) lassen eine Umkehr des schädlichen Abwärtstrends ohne externe Hilfe unwahrscheinlich werden.
Anderen Umgang mit Lebensmitteln anregen
Im Grunde genommen geht es um grundlegende Neuorientierungen. Tief eingebrannte Vorstellungen davon, wie ein schöner, schlanker Körper aussieht, müssen korrigiert werden. Es muss ein anderer Umgang mit Lebensmitteln und Essen angeregt werden. Das Einkaufen von Nahrung sollte in Begleitung von Therapeuten umorientiert werden. Das Essen muss unter Aufsicht von Therapeuten ganz anders erlernt werden. Schließlich haben wir möglicherweise auch noch eine Depression, die wenn möglich in die Therapie eingebunden werden sollte.
Du siehst schon, die Wörter Therapie und Umorientierung kommen in der Beschreibung oft vor. Das legt nahe, dass man die Hilfe von Spezialisten hinzuzieht. Dies kann auch ambulant erfolgen. Es gibt sehr bewährte Wege, mit Essstörungen umzugehen und Kliniken, die große Erfahrung damit haben.
Ohne die Zustimmung meiner Freundin wird sich nichts ändern. Es wird schwer sein, mit anzuschauen, wie es ihr immer schlechter geht und ihre Verzweiflung immer grösser wird. Zu ihrem Glück zwingen kann man sie nicht. Ausser, wenn Gefahr, ernsthafte Gefahr für ihren eigenen Leib und ihr Leben besteht. Darüber haben wir schon gesprochen.
Hast Du noch Fragen, frag mich. info@psychologische-beratung-rosenheim.de oder Telefon 0170/5395483.
Du kannst mir auch Themen vorschlagen, über die ich einmal schreiben sollte.
Beim nächsten Mal glaubt jemand, dass sie fremdgesteuert ist.
Alexander Wurthmann M.A.
(Quelle: Kolumne Dr. Alexander Wurthmann M. A. / Beitragsbild, Foto: re)
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