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Das Kind kommt nicht vom Handy los

Kinder schauen auf Handy

Karin Wunsam

Schreibt immer schon leidenschaftlich gern. Ihre journalistischen Wurzeln liegen beim OVB-Medienhaus. Mit der Geburt ihrer drei Kinder verabschiedete sie sich nach gut 10 Jahren von ihrer Festanstellung als Redakteurin und arbeitet seitdem freiberuflich für die verschiedensten Medien-Unternehmen in der Region Rosenheim.

25. Mai 2023

Lesezeit: 6 Minute(n)

Rosenheim – Jeden Donnerstag schreibt der Rosenheimer Dr. Alexander Wurthmann M.A. auf Innpuls.me über ein psychologisches Thema und gibt Tipps, wie man damit umgehen kann. Diesmal lautet das Thema: „Das Kind kommt nicht vom Handy los“.

Portrait Alexander Wurthmann

Dr. Alexander Wurthmann M. A. Fotos: re

Zu Dr. Alexander Wurthmann: Der Rosenheimer mit rheinischen Wurzeln ist Sohn eines Schriftstellers. Er hat schon im Alter von 9 Jahren seine erste handgeschriebene Zeitung verfasst. Mitte der 70er Jahre studienhalber nach München. Abschlüsse in Politologie und Geschichte (Thomas Nipperdey). Oft als Reiseleiter in Japan und China. Dann viele Bildungsprojekte auf Bundes- und Länderebene gemanaged und schließlich fast 30 Jahre eine berufsbildende Schule betrieben. Nunmehr im fünften Jahr bei einer lebensberatenden Hotline im kirchlichen Bereich tätig und betreibt in Rosenheim eine Praxis für psychologische Beratung und Coaching.
Hier gibt es dazu weitere Infos: 

Mit Handy wird Bühnenshow fotografiert.

Was tun, wenn dein Kind das Leben gefühlt nur noch über das Smartphone wahrnimmt?

Das Kind kommt nicht vom Handy los

Wenn es auf eine Frage mal nicht antwortet, kannst du eigentlich sicher sein, dass es gerade etwas Wichtiges auf dem Handy … ja, was soll man eigentlich sagen: sieht, liest, studiert. Das trifft es eigentlich nicht so ganz: aufsaugen wäre wohl korrekter. „Mamaaaa!!!“ du kennst den Tonfall schon fast auswendig und kannst es eigentlich schon selbst sagen. Mach’s doch mal, sag statt „hast du schon die Hausaufgaben gemacht?“ einfach nur „Mamaaaa!!!!“ Laut, unerbittlich, keinen Widerspruch duldend. Wie reagiert dein Kind darauf? Kann es sich noch vom Handy losreissen? Oder winkt es nur ärgerlich ab und will nicht belästigt werden.

Oder schaut es doch auf. Etwas verdutzt und verunsichert. Wäre auch besser. Immerhin bist du seine Mutter oder sein Vater. Da kann man nicht nur Mammmaaaaa!!!!-Granaten werfen!!!!! Wenn dein Kind noch ansprechbar ist, ist der Generationenkrieg noch nicht entschieden. Auch bei Mammaaaa-Granaten ist noch nicht alles zu spät. Wäre auch noch schöner. Immerhin hat es mit dir – wenn du seine Mutter bist – schon während der Schwangerschaft eine ganz einzigartige Bindung hergestellt. Entschuldigung, liebe Väter, so kurz nach Vatertag. Ich hänge eher dem traditionellen Modell von Vermehrung und Aufziehen an. Und da habt ihr nun mal leider nur die zweite Geige erwischt. Aber auch ihr könnt Unmengen von Oxitocin allein durch den Blickkontakt ausschütten und Bindung herstellen.

Menschen, mit denen das nicht mehr funktioniert, sind wirklich zu bedauern. Das ist ein grosses Defizit und wird eigentlich nur durch enorme Katastrophen ausgelöst. Und Mammaaaaa-Granaten wären ein Hinweis auf solche.

Es gibt nicht wenige, die eine solche Kind-Handy-Verschmelzung wie eine Sucht ansehen. Das wesentliche im suchthaften Verhalten beschreibt man auch als Toleranz-Entwicklung. Doch Achtung, das ist nichts Positives. Hier ist die Nachgiebigkeit gegenüber dem Sucht auslösenden Element gemeint und die zunehmende Neigung dieser nachzugeben. Zu grosse Toleranz an der falschen Stelle also. Das Suchtmittel wird in immer kürzeren Abständen und in immer grösseren Mengen konsumiert und es wird immer schwieriger, das Verlangen danach zu kontrollieren.

Mädchen von hinten in grüner Wiese

Oftmals ist es gar nicht so schwer, ein Kind auch wieder für die reale Welt zu begeistern. 

Wenn du dein Kind aber noch erreichst, versuch, die Beziehungsebene zu (re)aktivieren. Unternimm etwas mit ihm, das IHM Spass macht. Geh auf dein Kind ein und zeig ihm, was es dir bedeutet. Nimm dafür auch Nachteile oder Mühen in Kauf. Es erlebt auf diese Weise nicht nur eure Bindung erneut, sondern auch, dass es ausserhalb der Handy-Welt noch eine andere Welt gibt, die auch interessant sein kann. Verteufele das Handy nicht. Das ist nur kontraproduktiv. Und zeig lieber zur Abwechslung das interessante, reale Leben, das es zum Teil möglicherweise verpasst. Das ist natürlich nur dann wirksam, wenn du selbst diesem Nicht-Handy-Leben etwas abgewinnen kannst. Wenn du bei einem gemeinsamen Ausflug selbst laufend heimlich aufs Handy schaust, kannst du eigentlich auch zu Hause bleiben. Wenn du aber mit den Worten „so, jetzt möchte ich mal eine Zeitlang nicht gestört werden“ demonstrativ dein Handy komplett ausschaltest und in die Tasche steckst („die Welt wird in der Zwischenzeit schon nicht untergehen“) macht dein Kind das vielleicht nach.

Und wenn dein Kind nicht deinem Beispiel folgt, schimpf es nicht. Auch nicht, wenn es unterwegs stehen bleibt – wegen irgendeiner Message, die gerade hereinkommt. Radle einfach weiter und halt nach 100 Metern an um etwas ganz Tolles am Wegesrand zu beobachten. Konzentriere dich voll auf die Sehenswürdigkeit, verwende keinen Blick auf dein Kind. Es wird schon hinterherkommen. Du musst natürlich auch wirklich etwas Schönes finden, sonst verpufft das. Streng dich halt etwas an. Dann findest du eben erst nach 200 Metern etwas Interessantes.

Wenn dein Kind nach dem Spaziergang eine verpasste Message auf dem Handy entdeckt, frag es doch mal, ob es anders reagiert hätte, wenn es die Nachricht früher entdeckt hätte. Was also wirklich das Problem ist.

Wenn das funktioniert hat, ist der Weg frei, das Handy mal abends oder während der Hausaufgaben oder während dem Essen auszustellen. Freiwillig. Und natürlich alle. Das würde dann auch für anwesende Freunde oder Freundinnen gelten. Lass dein Kind das durchsetzen, hilf ihm aber bei Bedarf. „Ja, wir machen alle Handys hier beim Essen aus. Darf ich deins auch haben oder möchtest du es selber aus machen?“

Wenn das mit dem Weiterradeln nach dem dritten Mal nicht funktioniert, musst du diesen Weg aufgeben. Da musst du dann auch ehrlich mit dir sein. Kein „ach beim nächsten mal wird’s schon funktionieren“. Nein, wird es nicht. Dann ist die K….. am dampfen. Viele Süchtige rutschen schneller und tiefer in die Sucht, weil das Umfeld zu nachsichtig ist. Das ist bequemer und konfliktfreier. Für das Umfeld. Und die Suchtgefährdeten nutzen das aus, weil sie so leichter an das kommen wonach sie eine Sucht entwickelt haben.

Was aber, wenn das alles nicht funktioniert. Schauen wir uns mal an, wie man mit ernsthaft Süchtigen umgeht. Dabei reden wir von Menschen, deren Sucht eine ernsthafte Gefahr für sie selbst und für ihre Umgebung darstellt. Wer Drogen oder Alkohol konsumiert und dabei auch einen sogenannten Filmriss erlebt, gehört dazu. Dein Kind ist davon sicherlich weit entfernt. Aber man kann von der Therapie Süchtiger vielleicht das eine oder andere lernen.

Eine Entziehungskur für Drogen und Alkohol wird nicht alleine und zu Hause durchgeführt, sondern unter Aufsicht und in einer Klinik. Ich glaube, das können wir deinem Kind und dir ersparen. Am Anfang steht eine sogenannte Psychoedukation. Das ist eine Aufklärung über die Schädlichkeit der Sucht. Das solltest du auch mit deinem Kind machen. Bereite dich darauf vor. Besorg dir Broschüren oder Artikel. Unterschätz das nicht. Versuch das dialogisch zu machen und vermeide ewige Vorträge.

Blick auf Handy-Bildschirm

Manchmal kann nur noch der kalte Entzug helfen.

Nach der Aufklärung über die Gefahren unkontrollierter Handy-Nutzung, erfolgt eine sehr strikte Kontrolle der Handy-Nutzung. In der Suchttherapie nennt man das einen kalten Entzug. Schrittweiser Entzug (jeden Tag ein bisschen weniger) hilft nicht. Es muss sofort und komplett sein. Da das Handy auch notwendiger Kommunikationskanal ist, können wir hier keinen sofortigen und kalten Entzug durchsetzen. Ersatzweise kannst Du aber die Kontrolle über das Handy ausüben. Nur zu bestimmten, knappen Zeiten gibst du es deinem Kind. Es sind auch nur bestimmte Kommunikationen erlaubt. Persönliche Nachrichten checken und beantworten. Mit klarer Zeitbeschränkung. Darin müssen auch andere kommunikationsfähige Geräte einbezogen werden. Lass dich auf keine Tricks ein. Etwa „wir müssen das im Internet für den nächsten Test recherchieren … „. Frag genau, was recherchiert werden muss und mach es mit.

Unverfänglich über die Freunde reden

Der wichtigste Teil einer Entziehungskur besteht in der Begleitung der ehemals Süchtigen in eine neue, weniger suchtgefährliche Lebensumgebung. Also weg von den falschen Freunden, hin zu einer gesünderen Umwelt. Wenn deine bisherige Hilfestellung für dein Kind fruchtbar war, sollte auch das gelingen. Einfach unverfänglich über die Freunde reden. Dein Kind kann zu diesem Zeitpunkt schon selbst entdecken, wer einen schädlichen Umgang mit dem Handy hat.
Es kommen einige herausfordernde Zeiten auf dich zu. Auf dich! Bevor du anfängst, dich mit deinem Kind zu beschäftigen, musst du dich ganz aufrichtig fragen, wie dein eigenes Handy-Verhalten aussieht. Aber sieh es doch einmal so: Vielleicht kannst du ja auch dein eigenes Leben durch etwas bewussteren Umgang mit dem Handy bereichern.

Klare Linien durchhalten

Vor allem frag dich aber, hast du genügend Achtsamkeit deinem Kind gegenüber, um ihm mit Zuneigung aus der Situation herauszuhelfen? Hast du genügend Konsequenz, um klare Linien durchzuhalten? Und eigene Glaubwürdigkeit. Und genügend Zuneigung zu deinem Kind, um es nicht grenzenlos zu kontrollieren, sondern ihm die Möglichkeit zu geben, so zu wachsen, dass es das eigenverantwortlich regelt. Und bau Vertrauen auf. Recht bald kannst du deinem Kind vertrauen, wenn es eigenständig für den nächsten Test in Internet recherchiert. Frag es im Gespräch oft genug nach seiner eigenen Einschätzung und eigenen Überlegungen, wie man etwas verbessern kann. Oft sind das die besten Ideen. Schon im Mutterleib beginnt die ewige Auseinandersetzung zwischen Bindung zur Mutter und Streben nach Unabhängigkeit. Lösen kann diese Situation nur dein Kind. Helfen solltest du ihm dabei. Meine Vorschläge sind wirklich nur Anregungen. Sei kreativ und entwickle eigene Ideen. Du schaffst das.

Und wenn das alles nicht funktioniert? Vielleicht bist du ja selbst zu oft am Handy. Oder bist einfach befangen. Dann braucht ihr vielleicht beide externe Beratung.
Hast Du noch Fragen, frag mich. info@psychologische-beratung-rosenheim.de oder Telefon 0170/5395483.

Du kannst mir auch Themen vorschlagen, über die ich einmal schreiben sollte.

In der nächsten Woche „hört der Nachbar nachts Geräusche
Alexander Wurthmann M.A.
(Quelle: Kolumne Dr. Alexander Wurthmann M.A. / Beitragsbild, Fotos: re)

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