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Nicht mehr weiterleben

Was tun, wenn man merkt, dass ein Mensch nicht mehr leben will.

Karin Wunsam

Schreibt immer schon leidenschaftlich gern. Ihre journalistischen Wurzeln liegen beim OVB-Medienhaus. Mit der Geburt ihrer drei Kinder verabschiedete sie sich nach gut 10 Jahren von ihrer Festanstellung als Redakteurin und arbeitet seitdem freiberuflich für die verschiedensten Medien-Unternehmen in der Region Rosenheim.

15. Juni 2023

Lesezeit: 4 Minute(n)

Rosenheim – Jeden Donnerstag schreibt der Rosenheimer Dr. Alexander Wurthmann M.A. auf Innpuls.me über ein psychologisches Thema und gibt Tipps, wie man damit umgehen kann. Diesmal lautet das Thema: „Nicht mehr weiterleben“.

Portrait Alexander Wurthmann

Dr. Alexander Wurthmann M. A. Fotos: re

Holzfigur unter Steinen

Was tun, wenn man merkt, dass ein Mensch mit dem Gedanken spielt, sich das Leben zu nehmen?

Nicht mehr weiterleben

Wenn Du schon einmal selbst einen Suizidversuch unternommen hast oder jemand Dir nahestehender hat es probiert, solltest du dir gut überlegen, ob du diesen Artikel lesen solltest.

Gerade hat jemand gesagt, er sieht keinen Sinn mehr im Leben und wird sich umbringen. Ganz schön schockierend, nicht wahr. Was hast Du gemacht? Erst mal in Panik weggelaufen? Nicht gut. Denk an die letzte Kolumne. Schnell wieder zurück. Der braucht vermutlich Hilfe. Am besten noch mit ein oder zwei anderen, die ihn auch kennen. Keine großen Gruppen. Das könnte ihn verängstigen. Aber was kannst Du jetzt machen?

Kontakt nicht abreißen lassen

Das Wichtigste ist, den Kontakt zu ihm nicht abreißen lassen. Versuch in möglichst ruhigem Ton mit ihm zu reden. Aber über was? Zunächst einmal solltest du „sprachlich abrüsten“. Bitte vermeide daher Ausdrücke wie „Selbstmord“ oder „sich selbst töten“ oder „umbringen“. Sprich von Suizid, suizidal oder suizidieren.

Für fast alle suizidalen Menschen ist ein Suizid nichts Verwerfliches oder ein Negatives. Viele sehen darin eine Erlösung, z.B. von einer unheilbaren Krankheit. So wird der Suizid als ein Ausweg, ein logischer Endpunkt einer unvermeidlichen Entwicklung gesehen. Für viele ist es auch die endlich demonstrierte Souveränität über ihr Leben. Wenn sie z.B. immer fremdbestimmt waren, nie tun konnten, was sie eigentlich wollten. Jetzt ist der Moment gekommen, das Schicksal endlich in die eigenen Hände zu nehmen und niemand kann mehr dazwischenreden. Dieser Aspekt wird uns später noch begegnen.
Auch wer unter Verfolgungswahn leidet, kann in Suizid einen Ausweg sehen. Er kann hoffen, den bösen Mächten, die ihn verfolgen und möglicherweise ihrerseits töten wollen, zu entkommen.

Was also tun? Sprich ihn offen auf seine suizidalen Absichten an. Er hat das Thema selbst angeschnitten. Möglicherweise sogar in der Erwartung – vielleicht sogar Hoffnung – dass du darauf eingehst.
Neben der sprachlichen Abrüstung ist als nächstes wichtig, Dir klar zu machen, dass er das Recht hat, Suizid zu begehen. Auch juristisch ist das nicht verboten. Wie Du das selbst für dich hältst, ist eine andere Sache. Genauso wie er das Recht hat, Suizid zu begehen, hast Du das Recht anders zu denken. Helfen darfst Du ihm dabei aber nicht. Du hast das Recht, zu versuchen, ihn vom Suizid abzubringen. Mach Dir aber bitte keine zu großen Hoffnungen. Es geht hier nicht um dich, sondern um ihn. Soweit sollte deine Achtung gehen.

Hier ist wieder das allerallerwichtigste, im Gespräch zu bleiben. Vergiss bitte nicht, der andere kann jederzeit aufstehen und fortgehen. Ganz wichtig in dem Zusammenhang: Du darfst ihn nicht festhalten oder einsperren. Beides wäre Freiheitsberaubung.

Als nächstes solltest Du versuchen herauszufinden, wie ernst der Suizid-Wunsch ist, ob es schon Vorbereitungen gibt und wie weit diese schon gediehen sind.
Bei den Suizidankündigungen gibt es den „cry for help“. Derjenige möchte lediglich Aufmerksamkeit. Wenn er z.B. über Pläne für die Zukunft spricht, einen bestimmten Berg im Winter mit Tourenski zu begehen, dann war das eben vielleicht doch nur ein „cry for help“. Ganz sicher kannst Du dir allerdings nicht sein. Du solltest unbedingt nach Vorbereitungen für den Suizid fragen „wie hätte das eigentlich geschehen sollen?“

Wenn die Suizid-Absichten ernst gemeint sind, geht es in diesem Text ab hier ans Eingemachte. Und spätestens jetzt sollten empfindliche Seelen überlegen, nicht weiterzulesen.

Zunächst haben suizidale Menschen eher passive Todeswünsche. Dass sie eine unheilbare Krankheit bekommen, oder in einen tödlichen Unfall verwickelt werden – ohne eigenes Zutun natürlich.
Als nächstes wird über die Todesart nachgedacht. Dass es schnell, schmerzfrei und sicher gehen soll. Dass niemand anders in Mitleidenschaft gezogen werden soll. Dass z.B. der LKW-Fahrer, in den man frontal hineinfahren wollte, kein Trauma bekommt. Dass die Familie den dann toten und ggf. entstellten Menschen nicht identifizieren muss.
In etwa diesem Zeitraum werden Fahrpläne gecheckt, Brückenhöhen recherchiert und die Beschaffbarkeit diverser Materialien geprüft.

Spätestens jetzt ist die Absicht zum Suizid absolut glaubhaft. Du solltest ihm ernsthaft ein Gespräch über die Situation anbieten. Biete auch Hilfe von anderen an (Telefonnummern stehen unten). Mit der Telefonseelsorge kann man immer – sogar anonym – über die eigenen Sorgen sprechen.

Krisennotdienst Oberbayern kontaktieren

Das Angebot, die Polizei hinzuzuziehen, kann zur Flucht des Suizidalen führen. Vielleicht hat er das schon mal mitgemacht: Polizei, Einweisung, Ende der Freiheit. Der Vorschlag, einen Rettungswagen zu holen, kann ebenfalls Fluchtgedanken auslösen. Ich habe gute Erfahrungen mit dem Krisennotdienst Oberbayern gemacht. Das ist sehr viel niedrigschwelliger. Die kommen im Zweifelsfall und auf Wunsch auch nach Hause.

Hier die Telefonnummer und noch eine andere Telefonnummer:

Telefonseelsorge 0800 / 1110111 oder 0800 / 1110222
Krisendienst Psychiatrie Oberbayern 0800 / 655 3000

Nun kommen letzte Vorbereitungen. Da kann es Schlag auf Schlag gehen. Die Unterbringung des Haustiers bei Bekannten ist ein fast sicheres Zeichen, dass der Suizid unmittelbar bevorsteht.
Dann kommt der Abschiedsbrief. Manche Suizidalen schreiben davon mehrere. Im Abschiedsbrief wird der Suizid begründet. Wenn das nicht überzeugend klingt, wird eine weitere Version geschrieben.
Manchmal wird auch überlegt, wie der Abschiedsbrief den Adressaten erreicht, nachdem der Suizid bereits begangen wurde, also nicht mehr aufzuhalten ist.

Suizidale Menschen sprechen emotionslos

Zum Schluss noch ein kleiner Tipp. Ernsthaft suizidale Menschen sprechen emotionslos, verflacht, wie innen drinnen ganz kalt.
Noch eins. Wer einen Suizid – ob als Versuch oder erfolgreich vollzogen – aus der Nähe miterlebt hat, benötigt dringend und ganz schnell Hilfe, damit fertig zu werden. Zögere nicht, sie zu suchen.

Und jetzt schau dir unbedingt etwas Lustiges in Internet an. Du hast da bestimmt deine Quellen.

Hast Du noch Fragen, frag mich. info@psychologische-beratung-rosenheim.de oder Telefon 0170/5395483.
Du kannst mir auch Themen vorschlagen, über die ich einmal schreiben sollte.

In der nächsten Woche „ist das Kind kaum zu bändigen“
Alexander Wurthmann M.A.
(Quelle: Kolumne Dr. Alexander Wurthmann M. A. (Beitragsbild, Foto: re)

 

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